Was fehlt ?
Josef Joffe hat im Doppelheft 9/10 2006 des Merkur unter dem Titel „Was fehlt? – Schlag nach bei Börne“ eine Analyse der geistigen Situation in Deutschland veröffentlicht. Er konstatiert darin, dass wichtige „Gegenstromanlagen“, die „quer zum vertrauten Gedankenfluß stehen“, fehlen:
Es fehlt ein empirisches und kritisches Denken. Das heutige deutsche Denken steht in der Tradition des Bauens von Systemen, die nicht empirisch auf ihre Tragfähigkeit abgeklopft werden können. Die deutschen Denkkathedralen werden von oben nach unten gebaut und stützen sich nicht, wie in der angelsächsischen Welt, auf Empirie, sind nicht überprüfbar.
Deshalb fehlt auch eine liberale Tradition, die dem Einzelnen Vorrang vor dem Kollektiv einräumt, in der der Staat Schiedsrichter ist und nicht moralische Anstalt.
Politisch fehlt eine respektable, wandelheischende Rechte, die, wie in der angelsächsischen Welt bereits in den achtziger Jahre, schmerzhaftes Umsteuern propagiert und durchsetzen kann.
Es fehlen die Wege für Eindringlinge, auf denen sie sich ihre Plätze in der Gesellschaft schaffen können.
Es fehlt ein Universitätssystem als Aufstiegsleiter, das die Besten fordert und fördert.
Das Prinzip des Egalitären ist den Nachkriegsdeutschen so heilig geworden wie den Muslimen die Kaaba von Meeka. Und gerade deshalb ist Deutschland heute ein Land, in dem die, die aus dem System herausgefallen sind oder nie drinnen waren, vor geschlossenen Türen steht. Es ist ein Land, dem Unternehmergeist fehlt, das aber Unternehmergeist weder nachfragt nach begünstigt.
Joffe findet seine Kritik am heutigen Deutschland in der Kritik wieder, die Carl Ludwig Börne gegen Goethe gerichtet hat: gegen den Stabilitätsnarren und dessen Hass auf das Werdende, das Bewegliche, das Strebende und Widerstrebende. Joffe schließt damit, dass der große Dichter und Denker Goethe eine von den Festungen der Stabilität ist, „die noch heute zuhauf in der Bundesrepublik herumstehen und zu langsam geschleift werden.“
Die Freiheit im deutschen Denken
Joffes Kritik am heutigen Deutschland ist zweifellos berechtigt. Er muss sich jedoch fragen lassen, wie die von ihm genannten Probleme überwunden werden können. Er scheint der Meinung zu sein, dass die deutsche geistige Tradition noch nicht ausreichend vernichtet worden ist. Auch die Festung Goethe müsse noch vollständiger geschleift werden. (more…)